Gerlinde Zantis

Gerlinde Zantis, Dépt. 07 / Bois d’Orgnac I, 2015, Pastell, 80 x 120 cm

Dept. 48/Chemin de Brébis, 2011, Farbstift, 21 x 36 cm

Dept. 48/ Lou Bestrels, 2014, Farbstift, 21 x 36 cm

Dépt. 07 / Pagès III, Farbstift, 40 x 100 cm

Dept. 48 / La Devèze Grande II, 2015, Farbstift, 40 x 100cm

Ein Mädchen hockt auf dem Boden. Sie schaut mich nicht an, schaut hin. Unter ihren Füßen ist trockene Erde, der Mond scheint auf einzelne Bäume, Kiefern, Lärchen, Gruppen von ihnen, Wege, die auf nichts als Licht und Schatten zuführen.

Wie alle [dichterischen] Erfindungen beruht auch meine darauf, das Banale, das Selbstverständliche und deshalb auch das Unauffällige zu zeigen. Ich nehme die Sachen aus einer sehr nahen Perspektive wahr. Diese erlaubt mir, auf die gewohnte Distanz zur Dingwelt zu verzichten.

[Debora Vogel: Die literarische Montage, Eine Einführung. In: Akazien blühen. Montagen*. In: Debora Vogel: Die Geometrie des Verzichts. Gedichte, Montagen, Essays, Briefe. Deutsche Erstausgabe. Aus dem Jiddischen und Polnischen übersetzt und hrsg. von Anna Maja Misiak. Wuppertal: Arco-Verlag 2016, S. 433.]

Eine Frau hockt im Gras, auf der Erde, mit ihrem Skizzenblock. Sie ist konzentriert diese Nacht, will zeichnen, wollte es schon immer. Am nächsten Morgen zeichnet sie, in den nächsten Monaten arbeitet sie. Einmal hat sie sechs Wochen fast pausenlos gearbeitet, üblicherweise nimmt sie die Zeichenstifte über längere Zeiträume wieder und wieder in die Hand. Genauigkeit und Begeisterung fürs Werk sind ihr Antrieb, ein intensives Einlassen jenseits fester Arbeitszeiten. Die französische Landschaft lässt sich schon nach Tagen erahnen, atmet eine eindringliche Wirklichkeit, verblüffend detailgetreu und: die Farbe ist weg.

Es gibt auch keinen Widerspruch zwischen dem Willen nach Differenzierung der Bedingungen und Formen des Lebens und der Erkenntnis, dass Dinge existieren, die immer wiederkehren, und was sich verändert, ist nur ihre Umrahmung.

Eine Voraussetzung für das richtige Verständnis der Statik ist die Kenntnis der Dynamik: Erst dann begreift man das Wunder und die Fruchtbarkeit vom Gleichgewicht, von Zahl und Maß, von der organisierten Eintönigkeit im Pathos der Farbe Grau.

[Debora Vogel: Noch einmal über die Statik. Aus zitierter Ausgabe, S. 423.]

Gerlinde Zantis, geboren 1963, ist eine quirlige, lebhafte Frau; sie steht in ihrem kleinen Aachener Atelier vor mir und bietet fröhlich einen selbstgebrühten Espresso an. Gerlinde Zantis darf selbstbewusst sein: Nach FH-Studium erhielt sie Preise und Stipendien (so z. B. der Förderpreis des Rheinischen Kunstvereins oder das Stipendium des Heinrich-Böll-Cottage in Achill Island, Irland), stellte auch international aus, u. a. 2005 und 2012 in der Wyer Gallery, London, national beispielsweise im Ludwig-Forum in Aachen 2000, Künstler in Aachen heute, 2011, beteiligte sich von 1994–2009 jährlich an der Großen Kunstausstellung München, Haus der Kunst, und ist seit 2000 Mitglied der Münchner Sezession. Gemeinsam mit dem befreundeten Photographen Michael Dohle gab es bereits viele erfolgreiche Ausstellungen (so Out of Home, 2011, oder Melancholie mit Michael Dohle und Viorel Chirea, Galerie 45, Aachen 2010). Beide sind leicht irritiert ob der Versuche, Photo und Bild auseinanderzuhalten; sind sie doch beide eigenständige Künstler … Eigenwillig freilich ist Gerlinde Zantis Handschrift, die naturalistisch wirkt und sich doch nicht mit künstlerischem Naturalismus fassen lässt. Ja, eine Erweiterung, eine andere Sicht, das Herausziehen der Farbe. »So viel Farbe brauche ich gar nicht«, sie öffnet Ihre Schubladen mit ihrem ständigen Bestand: graue, dunkle Kreiden. Aber auch helle Töne. Die allesamt nach Grautönen von hell bis dunkel wirken, auf dem Papier auch grünlich, bläulich, rötlich schimmern. Unbenutzt sind die farbigen in sattem Rot, Blau, Gelb, irgendwann angeschafft, zu Schulungszwecken … An der Volkshochschule gibt Gerlinde Zantis ihr Können weiter, »sehr gerne« und bereits lange Jahre. Über Konkretes, ihre Technik, wohin und wie sie Themen umtreiben, das erzählt sie auch fürs eigene Schaffen. Doch obwohl sie ja kunstwissenschaftliches Wissen hat, lehnt sie, vehement und selbstbewusst, ab, eigene Arbeit zu analysieren und zu interpretieren: »Das überlasse ich den Kunsthistorikern.« Was denn? »Ich wollte immer nur zeichnen.« Sie ist in ihren Aachener Studienjahren (1983–1989) in Prof. Günther Knipp auf einen Mentor getroffen, der das zuließ und förderte, während der gewählte Studiengang mit »Grafik und Design« bezeichnet war …

Um uns herum stehen nicht nur Ihre Zeichnungen, sondern auch einige Rotweinkartons: Retouren ihrer Frankreichreisen, Rasteau und würzig-erdige Languedocweine. Frankreich und seine Regionen, seine Landschaften sind nun einmal Gerlinde Zantis’ künstlerisches Lebensthema. Reisen sind notwendige Anlässe für ihre Bilder, oft künstlergemeinschaftliche Arbeitsfahrten mit dem Skizzenbuch als wichtigsten Handapparat. Orte sind Dörfer, Landschaften. Die Künstlerin hat privat nie über ein Landleben nachgedacht, bewegt sich selbstverständlich im Stadtleben, zurzeit zudem in einem mit ihrem Mann gemeinsamen Pendlerdasein zwischen Friedrichshafen und der Stadt Aachen, der Sie besonders verbunden ist.

Gerlinde arbeitet tagsüber, diszipliniert, beharrlich. Den Arbeiten kann man es aber nachspüren, dass sie allzu oft schon in den Nächten hinausgezogen ist, fasziniert von den Ansichten, die Mondlicht darlegt.

Diese Distanz ist mit zahlreichen Interpretationen gefüllt, die so stark an den Dingen haften, dass sie aus unserer Sicht damit identisch sind und dafür gehalten werden. Dank der nahen Perspektive kann man über Klischees hinausdenken, die zu einer bestimmten Zeit mit den Dingen verwachsen sind. Eine Sache kann dann als kontextlos, interpretationsfrei und etikettenlos betrachtet werden oder auch als von ihrem bisherigen Etikett befreit.

[Debora Vogel: Die literarische Montage, S. 433. Aus zitierter Ausgabe].

Ach ja, dann sagt Gerlinde Zantis doch etwas über Ihr Schaffen, sie habe über ihre Arbeit »nur einen Satz geschrieben«:

Es ist die Dämmerung, das Zwielicht, das die gewohnten Farben des Tages aufhebt und alle Situationen allmählich in hell und dunkel scheidet, sowie das Licht des aufziehenden Mondes, dem ich mit Farbstift, Pastellkreide oder Bleistift nachspüre und notiere, was dann noch bleibt.